Foto oben: Was die Katze mit der Kiefer zu tun hat, das erfährst du beim Lesen des Baum-Märchens

Einige schöne Bäume haben in unserem Buch „Mechthild Goetze: Baum-Märchen für wundersame Stunden“ keinen Platz gefunden.

Kiefer in Ludwigsburg, vis à vis vom Lesegarten der Stadtbibliothek

Deshalb ein Märchen für die Kiefer:

Die Schöne sucht Schutz in einer Kiefer

In einer längst vergangenen Zeit lebten in einem Land irgendwo noch Hundeköpfe. Das waren Wesen, auf deren Hals kein Menschen- sondern ein Hundekopf saß. Und sie waren behaart und fürchterlich.
In diesem Land, da ging einmal ein schönes Mädchen über ein Feld. Die Sonne schien, das Mädchen fühlte sich frei wie ein Vogel. Es hielt sein Gesicht der Sonne entgegen und summte beim Gehen eine kleine Melodie. Als es den Kopf wieder senkte, da sah es vor sich eine ganze Herde von Hundeköpfen. Erschrocken wandte sich das Mädchen um, es wollte fliehen. Doch die Hundeköpfe hatten es längst erspäht.
„Wuff!“, bellte einer. „Die Schöne da vorn, die ist so schön. Die wollen wir fangen! Wuff, wuff!“
Das Mädchen hörte das Bellen und rannte. Wiesen, Felder, nirgendwo ein Versteck. Doch vor ihr lag der Wald. Sie war schon ein gutes Stück auf den Wald zugelaufen und hörte hinter sich die Hundeköpfe, sie würden sie bald einholen. Da aber hatte sie schon den Waldrand erreicht, mit Kiefern dicht und hoch. Hastig kletterte sie auf eine. Weit oben verbarg sie sich keuchend zwischen den nadeligen Zweigen.
Die Hundeköpfe waren schrecklich, waren aber außerstande, ihren Kopf so weit zu heben, dass sie nach oben schauen konnten. Es war ihnen daher unmöglich, das Mädchen in dem Baum zu erspähen. Sie hatten aber feine Ohren und hatten die Klettergeräusche wohl vernommen. Welche Kiefer aber war es, in der sich dieses schöne Wesen versteckt hielt? Das wollten sie herausfinden und stachen mit ihren sehr langen Speeren nacheinander in alle Bäume. Aus einer Kiefer tropfte Blut, da wussten sie Bescheid. „Wuff! Das ist der Baum!“, bellten sie. „Da sitzt die Schöne. Wuff!“.

Und das Mädchen in der Kiefer wusste: Ich bin verloren. Unten am Stamm stand die Horde und alle gemeinsam rissen an dem Baum. Sie rissen den Baum mitsamt seiner Wurzeln aus.

Sie packten die Schöne und schleppten sie fort. Sie taten ihr aber nichts zuleide.
Sie kamen zu einem großen Schloss. Dieses aber zeigte weder Fenster noch Türen. Es schien darin auch kein einziges Lebewesen zu geben außer diesen Hundewesen und es gab da noch eine Katze. Das Mädchen sperrten sie in eine Stube hoch droben im Turm. In dieser Stube lebte nun das Mädchen tagein, tagaus. Durch ein kleines Luftloch in der Decke konnte sie alle Tage die Sonne hereinscheinen sehen.

Das Mädchen weinte viel. Und grübelte ständig, was ihr zur Flucht verhelfen könnte. Jeden Morgen gingen die Hundeköpfe fort und kamen erst am Abend zurück. Jeden Tag blieb das Mädchen mit der Katze allein. Immer wieder versuchte sie, durch das Luftloch zu klettern. Aber die Katze hob jedes Mal so Furcht einflößend die Krallen und fauchte dazu ganz entsetzlich.

Eine Woche oder ein Monat war vergangen, da erschien in der Stube unverhofft ein weißhaariger alter Mann. Er sah nicht böse aus, im Gegenteil. „Marjellchen, warum fließen deine Tränen?“, fragte er so gütig, dass das Mädchen sogleich Vertrauen fasst.
„Weil ich zu meinem lieben Vater möchte!“, schluchzte es laut als Antwort.
„Du kannst hier doch aber nicht fort, das Schloss hat keine Türen“, sprach darauf freundlich der alte Mann.
„Das weiß ich doch. Aber da droben, in der Decke, da ist ein Luftloch. Durch das Loch wäre ich schon längst gekrochen, hätte mich nicht diese unheimliche Katze daran gehindert.“
„Ja, Marjellchen, weißt du es denn nicht? Im Schwanz der Katze sitzen doch neun Teufel. Das sind die Diener der Hundeköpfe. Du kannst sie aber vertreiben. Gib der Katze Fleisch. Und wenn sie danach schnappt, so hacke ihr schnell den Schwanz ab und wirf den Schwanz weit, weit hinter dich. Die Katze wird dir nicht böse sein, denn sie hat die Teufel längst satt. Und die Teufel – die können dir dann nichts mehr anhaben.“

Nach diesen Worten nickte der Alte dem verweinten Mädchen noch einmal freundlich zu und verschwand lautlos.
Das Mädchen folgte seinem Rat. Sie hackte der Katze den Schwanz ab und warf ihn weit, weit hinter sich. Tatsächlich; kaum hatte sie den Schwanz fortgeworfen, verkroch sich die Katze still in einer Ecke.
„Jetzt“, flüsterte sich das Mädchen Mut zu. Sie sprang auf, zwängte sich durch das Luftloch und kletterte auf das Dach des Schlossturmes. Es dämmerte bereits, das Mädchen konnte nicht viel erkennen. „Ich muss fort sein, ehe die Hundeköpfe heimkommen“, dachte sie. Da sah sie plötzlich, wie sich die schwanzlose Katze durch das Luftloch streckte. Das Tier lief gleich weiter, immer am Gesims entlang. Das Mädchen folgte ihr und es gelangte zu einem Baum, dessen einer Ast an das Dach stieß. Bei diesem Baume sah sie die Katze in der Tiefe verschwinden. Und das Mädchen kletterte ihr nach. Sie ließ sich das letzte Stück am Stamm herabrutschen und kaum berührten ihre Füße den Boden, da rannte sie fort. Nur weg von dem unheimlichen Schloss.

Gerade als sie losrannte, da kamen die Hundeköpfe heim. In der Stube im Turm fanden sie den abgehauenen Katzenschwanz und erkannten, was geschehen war. Schnell waren zwölf der Ihrigen bestimmt, die sollten die Schöne zurückholen.
Das Mädchen kam zu ihrem Elternhaus – das war eine kleine Schmiede, sie lag unmittelbar am Fluss. Von dem Wasser wurde der Hammer angetrieben, mit welchem ihr Vater, der Schmied, arbeitete. Es war aber niemand daheim, der Vater war seit dem Tag ihres Verschwindens unterwegs um sie zu suchen. So stand auch das Wasserrad ganz still. Ja, es war bei der Schmiede finster und ringsum herrschte eine Grabesstille. Das Mädchen rüttelte an der verschlossenen Tür. Sie rief laut nach ihrem Vater. Er antwortete ihr aber nicht, obwohl sie ihr Rufen immer wiederholte. „Soll ich mich auf die Bank legen, die vor dem Hause stand und auf seine Rückkehr warten?“.

„Oh nein,“ fiel ihr ein. Da bin ich doch vor den Hundeköpfen nicht in Sicherheit.

Das Mädchen trat an das Wasserrad und holte tief Luft. Sie brauchte jetzt viel, viel Kraft. Dann hob sie mit Entschlossenheit das Wasserrad ab und ließ es in den Fluss fallen. Es zeigte sich nun eine Öffnung, durch diese kletterte sie in die Schmiede hinein. Aufatmend zündete sie darinnen einen Kienspan an, um die pechschwarze Dunkelheit zu vertreiben.

Da hörte sie draußen das Bellen der Hundeköpfe. Sie hatten sie mit ihren feinen Hundenasen aufgespürt. Geschwind verrammelte sie die Tür mit einer Brechstange und verhängte auch das Fenster. Und dann nahm sie eine riesengroße Axt, die ihr Vater geschmiedet hatte. Mit erhobener Axt versteckte sie sich neben der Öffnung, durch die sie ins Haus gelangt war. Gleich werden sie dort erscheinen, dachte sie.
Schon steckte einer der Hundköpfe seinen Kopf in die Schmiede. Das Mädchen wartete, bis er ganz hereingerutscht war. Dann holte es aus und schlug ihm mit der Axt den Schwanz ab. Sogleich verkroch der sich ganz friedfertig in eine Ecke und leckte sine Wunde.

Weil der Hundekopf durch das Loch verschwunden war, folgten ihm dien anderen. Nacheinander kamen alle auf die gleiche Art in die Hütte und allen schlug das Mädchen auf die gleiche Weise den Schwanz ab.
Als am nächsten Morgen der Vater endlich in die Schmiede zurückkehrte, da fand er dort seine Tochter, sie schlief. Und am Boden lagen – ganz friedlich – zwölf Hundeköpfe. Nur ihre Schwänze, die fehlten.

(Quelle: Nach einem Märchen aus dem ehemaligen Jugoslawien)

Lesung in Ludwigsburg:
Samstag, 19. September 2020 (11 Uhr)