Foto oben: Eine junge Linde, so wie der Graf sie für seine junge Gemahlin im Hof seines Schlosses pflanzte

Drei Raben auf den Linden – ein Baum-Märchen von Mechthild Goetze

Vor langer Zeit, da lebte einmal ein Mädchen allein mit seinem Vater in einem Schloss. Das Mädchen, es sah niemals den Vater lachen, wuchs heran und fragte sich jeden Tag, warum das wohl so sei. Als es nun eine junge Frau geworden war, da nahm es sich endlich ein Herz und fragte den Vater, warum er immer so traurig sei. Da räusperte sich der Vater und erzählte dann, sie habe drei Brüder. Diese jedoch habe er vor vielen Jahren in einem kurzen Augenblicks des Zorns zu Raben verwünscht. Sein böser Wunsch habe ihn im selben Augenblick gereut, doch da waren die Raben schon fortgeflogen. Er selbst indes zergrübele sich seit diesem Tag den Kopf, wie er seine Verwünschung wieder rückgängig machen könne.
Das Mädchen konnte nach diesem Geständnis nur noch eines denken: „Wie kann ich meine Brüder erlösen?“ Und als sich eine Gelegenheit bot, huschte es still und ungesehen davon. Es eilte kräftigen Schritts auf kleinen geheimen Wegen durch das Land und war am Abend in einem Wald. Das Mädchen war völlig ohne Ängstlichkeit.
Wo nun in dem Wald die Bäume besonders dicht standen, da traf es eine sanft glitzernde Fee. Das Mädchen, glücklich ein Wesen zu treffen, welches sie nach ihren Brüdern fragen konnte, erzählte der freundlichen Fee von seinem Anliegen. Diese versprach auch ihre Hilfe, lud aber zunächst das Mädchen ein, die Nacht in ihrer Laubhütte zu verbringen.
Kaum dämmerte es am anderen Morgen, da bat die Fee das Mädchen, ihr zu folgen. Auf verschlungenen Pfaden gingen sie durch den Wald. Als sich an seinem Rande die Bäume lichteten, da erstreckte sich vor ihnen mit einem Mal ein weites Feld. Still blieb die Fee stehen, zeigte über das Feld hinweg und sprach: „Nun muss ich dich verlassen. Geh du aber über dieses Feld. Halte dich stets geradeaus, dann kommt du zu den drei schönsten Linden der Welt. In jeder dieser Linden lebt ein Rabe und diese drei Raben waren einst deine Brüder. Nun geh mit meinen guten Wünschen.“ Die Worte waren gesprochen, lautlos verschwand die Fee.
Das Mädchen schaute über das Feld und begann zu marschieren. Eine geraume Weile war sie schon gegangen, endlich erkannte es in der Ferne die versprochenen Linden. Gleich beschleunigte es seinen Schritt und da sah es auch schon die Raben. Als drei riesenhafte schwarze Vögel flatterten diese von ihren Bäumen herab. Sie flogen auf das Mädchen zu und es war merkwürdig, das Mädchen verstand ihre Worte, welche sie im Fluge sprachen:
„Seht doch, da kommt ist ja unser herzliebes Schwesterlein“, krächzte der eine Rabe.
„Es hat uns gefunden“, ergänzte der zweite.
„Es will uns erlösen!“, jubilierte der dritte.
Das Mädchen klatschte glückstrahlend in seine Hände und jauchzte: „Ihr habt mich richtig erkannt! Sagt, wie kann ich euch erlösen?“
„Das wird ein schweres Stück, ein schweres Stück. Es braucht Mut und Geduld und Durchhaltevermögen.“
Bedächtig wackelten die Raben mit ihren Köpfen und fuhren gemeinsam fort. „Drei Jahre lang darfst du kein einziges Menschenwort sprechen. Kommt dir nur eine einzige Silbe über die Lippen, so bleiben wir für ewige Zeit als Raben auf diesen Linden.“
„Dieses Schweigen, ich nehme es von Herzen gern auf mich“, jauchzte strahlend das Mädchen.
Da hüpfte jeder Rabe auf des Mädchens Schultern, pickte diesem sanft ins Ohr und flog alsdann zurück auf seine Linde. Das Mädchen winkte ihnen freundlich einen Gruß hinauf, dann lief es leichtfüßig davon. Es kam kein einziges Wort über seine Lippen.

Im ersten Abenddämmerlicht erreichte das Mädchen wieder den Wald der Fee und hielt Ausschau nach derselben. Es konnte sie indes nicht finden und irrte auf den immer dunkler werdenden Wegen umher. Mit einem Mal sah es vor sich ein stattliches Schloss und als es da stand, preschte aus dem Tor gerade ein Trupp Jäger heraus, vorneweg der Graf. Als der das Mädchen erblickte, ritt er sogleich auf dieses zu und fragte: „Was ist dein Begehr, schöne Maid?“
Allein – das Mädchen verneigte sich. Sie lächelte dabei freundlich, blieb aber vollkommen stumm.
Der Graf sah herab auf die liebliche Gestalt. Er vergaß all seine Pläne und sprach lächelnd: „Dir scheint es die Sprache verschlagen zu haben. Komm mit mir in mein Schloss, es soll dich nicht reuen.“
Im Schloss führte der Graf das Mädchen zu der alten Gräfin, die seine Mutter war. Die alte Frau jedoch fragte barsch: „Herr Sohn, was soll stumme dumme Dirne hier bei mir?“
Der Graf, er ließ sich nicht beirren, er erwiderte fest darauf: „Fürwahr, verehrte Frau Mama, sie spricht nicht. Aber schau nur, wie liebreizend sanft sie ist. Sie soll meine Gemahlin werden.“
Stumm wandte die Gräfin sich ab. Doch sie schwor sich, diese dummen Dirne niemals in ihr Herz zu schließen.
Der Graf indes hielt unbeirrt an seinem Plan fest. Schon am anderen Tage war die Hochzeit. Die Gräfin aber blieb der Feier fern

Am Morgen nach dem Fest kam ein Ritter zu dem Schloss geritten. Im Hof zügelte er sein Pferd und verkündete: „Ein Befehl des werten Kaisers! Als dessen Gesandter habe ich folgende Botschaft zu verkünden. Ein großer Krieg gegen das feindliche Land auf dem Berge ist ausgebrochen ist. Herr Graf, höre den Befehl des werten Kaisers; er soll auf der Stelle nach seinen Lanzen und Speeren greifen und mir folgen.“
Umgehend ließ der Graf seine Bediensteten das Notwendige packen und sein Pferd satteln. Er vergaß aber seine junge Gemahlin in all der Aufregung nicht und pflanzte ihr als Abschiedsgruß im Schlosshof eine zarte Linde. „Immer sollst du an mich denken, wenn du diese Linde siehst!“
Als der Graf fortgeritten war, lebte die junge Gräfin im Schloss mit der alten herrischen Gräfin. Niemand war da, dem sie vrtrauen konnte. Aber sie hatte ihren Baum, den sie täglich besuchte. So zogen neun Monate ins Land, da gebar die junge Gräfin einen wunderlieben Knaben. Doch die alte Gräfin hatte Böses im Sinn, ein Diener musste den Säugling am selben Tag in den Wald tragen. Als der Diener der jungen Gräfin das Kind fortnahm, kam kein Ton des Jammerns über deren Lippen. Als Trost blieben ihr nur ihre stummen Besuche bei ihrer Linde.
Zwei Wochen hernach kam der Graf auf Urlaub heim. Die alte Gräfin flüsterte ihm schon am Tor zu: „Dein Weib ist ein Zauberweib, ein totes Kind fiel heraus aus ihrem Leib.“
Die junge Gräfin vernahm die gelogenen Worte, musste stumm bleiben, konnte die Behauptung nicht geraderücken. Der Graf aber wusste nicht, was er glauben sollte. Seine Gemahlin, sie schien ihm so liebreizend und hold.
Er zog schon einige Tage wieder in den Krieg und vergaß beim Kämpfen die Worte der alten Gräfin.
Die junge Frau gebar in seiner Abwesenheit einen zweiten Knaben, doch auch diesen ließ die alte Gräfin in den Wald tragen. Als wiederum der Graf für einen kurzen Urlaub angeritten kam, wisperte die alte Gräfin ihm diesmal ins Ohr: „Dein Weib ist des Teufels, höre her! Ihr zweites Kind, behaart wie ein Tier – es schwamm in Blut, so rot – und war wiederum tot!“
Diesmal entfachten ihre Worte bei dem Grafen einen lodernden Zorn und er befahl seiner Gemahlin barsch, sie habe – sobald er wieder fortgeritten sei – wie eine einfache Magd in seinem Schloss zu dienen.
Die junge Frau gehorchte stumm, mit einer tiefen Trauer im Herzen. Als ihr Gemahl wieder fort war, putzte sie, was man ihr auftrug. Doch schlich sie sich Nacht für Nacht in den Hof zu der Linde. Bei ihr fand sie den Trost, den sie brauchte.
So zog ein weiteres Jahr ins Land und nach diesem Land endete endlich der Kriegszug des Kaisers. Der Graf kehrte als Sieger heim in sein Schloss. Dort hatte seine Gemahlin in seiner Abwesenheit einen dritten Knaben geboren. Doch auch den hatte die Alte in den Wald tragen lassen und raunte diesmal dem Grafen zu: „Dein stummes Weib – den Tod verdient hat sie! Ein drittes Kind, welches sie gebar –ein garstig Ungetüm dieses war! Du magst es glauben oder nicht – es hatte zwei Köpfe, doch kein Gesicht.“
Das kann nur Hexerei sein, dachte der Graf, der seiner Mutter jedes Wort glaubte. Auf der Stelle ließ er seine Gemahlin auf der Stelle in das finsterste Turmverlies seines Schlosses sperren und befahl seinen Dienern außerdem, für die „Hexe“ einen hohen Holzstoß zu errichten, mitten im Hof des Schlosses.
Am Tag darauf versammelte sich bei dem Schloss das hohe Gericht. Alles sprach gegen die junge Gräfin und der ehrenwerte Richter und seine Berater fällten ihr Urteil. Mit lauter Stimmer verkündete der Herold der jungen Frau den Tod durch Verbrennen. Die junge Gräfin zeigte keine Regung, hob nur stumm den Kopf und schaute zu ihrer Linde. Und wie sie auf den Baum schaute, da lösten sich drei Blätter und segelten sanft herab zu Boden. Als sie das sah, da überkam sie eine tiefe Ruhe. Sie ahnte, was nun geschehen würde.
Es vergingen kaum drei Sekunden, da preschten drei fremde Ritter in den Schlosshof. Sie zügelten just unter der Linde ihre Rosse und riefen laut: „Da sind wir, liebe Schwester! Du hast uns erlöst! Auch deine Knaben haben wir im Gepäck, die Fee im Walde hat sie aufgezogen für dich!“
Ein Jubelschrei entfuhr da der jungen Gräfin. Und laut jubelnd lief sie auf ihre Brüder zu und warf sich in deren Arme. Jeder drückte ihr dabei einen Buben in die Arme, die sie fest an sich drückte und liebkoste.
Totenblass stand der Graf am Rande und schaute auf seine drei quicklebendigen Knaben und auf seine Gemahlin, aus deren Mund unermüdlich Worte purzelten. Schnell aber überwand er sich und trat demütig auf die fröhliche Gruppe zu. Er entschuldigte sich von Herzen, schüttelte den Brüdern der jungen Gräfin dankbar die Hand, umarmte fest seine Gemahlin und sie verzieh ihm alles.
Die alte Gräfin indes, sie lief hurtig fort in die weite Welt und ward nie wieder gesehen.
In dem Schloss lebten von diesem Tag an Graf und Gräfin prächtig mit ihren drei Söhnen. Die Linde im Schlosshof wuchs zu einem mächtigen Baum heran, sie wuchs auch noch weiter, als Graf und Gräfin längst gestorben waren. Vielleicht steht sie heute noch irgendwo, mitten in einem Walde. Das Schloss aber, und das ist gewiss, ist heute längst zerfallen und verschwunden.
Quelle: Otto Sutermeister – Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz. Aarau, 1873