Das ist wirklich wahr

Märchen von Hans Christian Andersen – frei nacherzählt von Mechthild Goetze

Die Geschichte begann in einem Hühnerhaus am Ende eines Dorfes. Stellen wir uns doch einfach einmal vor, dass dieses Dorf Gerstetten war, auch wenn der Märchenerzähler Hans Christian Andersen in Schweden lebte. Wir stehen also bei der Hühnereiche, blicken auf das friedliche Gerstetten, und lauschen dem Märchen:
Da stand am Ende des Dorfes ein Hühnerhaus. Die Sonne ging unter und die Hühner flogen auf. Eins von ihnen, es war weiß gefiedert und kurzbeinig, legte seine vorgeschriebene Anzahl Eier. Es war, als Huhn, in jeder Weise respektabel. Und als es nun die Leiter hinaufstieg zu seinem Schlafplatz auf der Hühnerstange, da zauste es sich mit dem Schnabel. Eine kleine Feder fiel ihm dabei aus und segelte sanft zu Boden. Das Huhn schaute der kleinen Feder nach und dachte dabei „Hin ist hin!“ Beim Weitergehen aber kam ihm ein Gedanke und sprach scherzhaft: „Je mehr ich mich putze, desto schöner werde ich noch!“
Ja, es war das lustigste unter den Hühnern und liebte solche Scherze. Im übrigen war es, wie gesagt, sehr respektabel. Es setzte sich auf die Hühnerstange und schlief ein.
Ringsum war es dunkel, Huhn an Huhn saß auf der Stange. Aber eines konnte die Augen noch nicht schließen, denn es ging ihm durch den Sinn, was dieses Huhn gesagt hatte. Um seine Gemütsruhe zu bewahren und zur Ruhe zu kommen, musste es seiner anderen Nachbarin schnell noch zuflüstern: „Hast Du gehört, was hier gesprochen wurde? Ich nenne keinen Namen, aber es gibt hier ein Huhn, das sich rupfen will, um schön auszusehen! Wenn ich ein Hahn wäre, würde ich es verachten.“
In einem Baum, gerade den Hühnern gegenüber, saß die Eule mit ihrem Eulenmann und den Eulenkindern. In dieser Familie hat man sehr scharfe Ohren. Die Eulen hörten jedes Wort, was das Huhn sprach. Sie rollten mit den Augen und die Eulenmutter empörte sich. Sie fächelte mit den Flügeln und sprach zu ihrem Ehemann: „Hör nur nicht hin! Aber hast du gehört, was dort drüben im Stall der Hühner gesprochen wurde? Ich hörte es mit meinen eigenen Ohren! Da ist wohl eins unter den Hühnern, was vergessen hat, was sich für ein Huhn schickt. Es scheint da zu sitzen und zupft sich alle Federn vom Leibe und lässt dies den Hahn mit ansehen!“
„Prenez garde aux enfants!“ sagte der Eulenvater, „das ist nichts für die Kinder.“
„Da hast du Recht. Aber ich will es doch der Nachbareule erzählen! Diese ist eine so ehrenwerte Eule im Umgang!“ Und mit diesen Worten flog die Mutter fort.
„Hu-Hu! Uhuh!“ tuteten es bald Eule und Nachbareule in den gegenüberliegenden Taubenschlag zu den Tauben hinein. „Habt Ihr schon gehört? Uhuh! Da ist ein Huhn, das sich alle Federn ausgerupft hat wegen des Hahns. Es wird totfrieren, wenn es nicht schon tot ist, uhuh!“
„Wo? Wo?“ kurrten die Tauben.
„Im Nachbarhofe! Ich habe es so gut wie selbst gesehen. Es ist zwar eine etwas unanständige Geschichte, aber es ist wirklich wahr!“
„Wir glauben dir, wir glauben dir jedes einzige Wort“ sagten die Tauben. Und gleich gurrten sie zu ihrem Hühnerstall hinab: „Da ist ein Huhn, ja, einige sagen sogar, es seien zwei, die sich alle Federn ausgerupft haben, um nicht wie die anderen auszusehen und dadurch die Aufmerksamkeit des Hahns zu erregen. Das ist ein gewagtes Spiel, man kann sich dabei erkälten und am Fieber sterben, und nun sind sie beide tot!“
„Wacht auf! Wacht auf!“ krähte der Hahn, als er das hörte und flog auf den Zaun. Der Schlaf saß ihm noch in den Augen, aber er krähte trotzdem: „Es sind drei Hühner aus unglücklicher Liebe zu einem Hahn gestorben! Sie haben sich alle Federn ausgerupft! Das ist eine hässliche Geschichte, ich will sie nicht für mich behalten, lasst sie weitergehen!“
„Ja, lasst sie weitergehen!“, pfiffen die Fledermäuse, und die Hühner gluckten und der Hahn krähte: „Lasst sie weitergehen! Lasst sie weitergehen!“
Und so eilte die Geschichte durch das Dorf. Sie wanderte von Hühnerhaus zu Hühnerhaus und endete zuletzt bei der Stelle, von wo sie ausgegangen war. Und die Hühner im ersten Hühnerhaus, noch ganz verschlafen, gackerten sich zu: „Da sind fünf Hühner, die sich alle die Federn ausgerupft haben, um zu zeigen, welches von ihnen am magersten vor Liebeskummer um den Hahn geworden wäre. Sie trafen sich unter der Eiche vor unserem Dorf. Und dort hackten sie aufeinander los, bis das Blut floss. Tot fielen sie zur Erde, ihrer Familie zu Schimpf und Schande und ihrem Bauern zu großem Verlust.“
Auch das Huhn, das die lose, kleine Feder verloren hatte, hörte diese Geschichte. Es erkannte sich darin natürlich nicht wieder. Da es aber ein respektables Huhn war, gackerte es: „Diese Hühner verachte ich. Aber es gibt mehr von dieser Art. So etwas soll man nicht vertuschen, ich will jedenfalls das meinige dazu tun, dass die Geschichte in die Zeitung kommt, dann geht sie durch das ganze Land, das haben die Hühner verdient und die Familie auch!“
Und es kam in die Zeitung und wurde gedruckt.
Ja, es ist wirklich wahr: Aus einer kleinen Feder können schnell fünf Hühner werden!

Weitere Märchen mit Hahn und Huhn
Die Bremer Stadtmusikanten (Brüder Grimm): Der Hahn wurde von seinem Besitzer ausgemustert, soll im Suppentopf landen. Doch er wagt, zusammen mit anderen Gedemütigten, den Aufbruch zu etwas völlig Neuem. Dabei kommt ihm seine Angriffslust beim Kampf mit den Räubern sehr zu Passe.
Die drei Glückskinder (Brüder Grimm): Einer von drei Brüdern macht sein Glück, indem er sein einziges Erbstück, einen Hahn, an ein Inselvolk verkauft, bei dem Hähne noch gänzlich unbekannt sind.
Der Hahnenstein (von Giambattista Basile): Hier steht der Hahn für den Neubeginn, der für seinen Besitzer, einen bettelarmen Mann, möglich wird. Im Kopf des Hahnes befindet sich ein Zauberstein, der alle Wünsche erfüllt. Also wird er geschlachtet, um an den Stein zu kommen.
Hans mein Igel (Brüder Grimm): Hans ist ein Junge, der in einem Stachelkleid geboren wurde. Im Zuge seiner Emanzipation benutzt er einen Hahn (Symbol für Potenz, Männlichkeit, Kampfbereitschaft) als Reittier.
Jack und die Bohnenranke (Englisches Märchen): Jack klettert an der Bohnenranke bis zum Himmel und stiehlt dort das Huhn, das goldene Eier legt. Damit sichert er das Auskommen für sich und seine Mutter.
Das Lumpengesindel & Von dem Tode des Hühnchens (beide Brüder Grimm): In diesen schwankartigen Tiermärchen treten Huhn und Hahn als komische Figuren mit übertriebener Typisierung auf (dummes Huhn, dominanter Hahn). Abweichend von den Verhältnissen auf dem realen Hühnerhof werden Huhn und Hahn dabei als Paar dargestellt, also vermenschlicht, ohne die Asymmetrie im Geschlechterverhältnis ganz aufzugeben.
Das Waldhaus (Brüder Grimm): Ein junges Mädchen verirrt sich in das Haus eines alten Mannes, der dort mit einem Hühnchen, einem Hähnchen und einer Kuh zusammenlebt. Sie versorgt nicht nur den alten Mann, sondern auch die Tiere, die für Aspekte wie Fürsorglichkeit (Huhn), Erwachen des sexuellen Bewusstseins (Hahn) und Weiblichkeit (Kuh) stehen könnten.