Birnbaum mit Ballade

Foto oben: Birnbaum oberhalb vom Kohlhof in Heidelberg

Oktober ist’s, ich bin eingeladen zu einer Lesung. In einer kleinen Bibliothek sitzen vor mir 60 Fünftklässler.
Für meine Lesung habe ich eine Auswahl aus meinem Buch „Baum-Märchen für wundersame Wege“ getroffen. Natürlich kann ich nicht Märchen um Märchen vorlesen. Meist lese ich auch gar nicht, denn ich bin Geschichtenerzählerin. Ich erzähle meine Märchen frei, benutze nur kleine Karteikarten als Spickzettel.

„Der Birnbaum, der niemals auch nur eine einzige Birne getragen hatte“ – ich komme zu meinem Märchen vom Birnbaum. Dieses erzähle ich besonders oft, doch meistens – merkwürdigerweise – im Wald. Dabei steht der Birnbaum in meinem Märchen in einem Garten, Birnbäume stehen nicht im Wald. Ein Schnitzmeister spielt darin eine Rolle, der letztendlich aus einem alten Birnbaum hölzerne Birnen schnitzt; daher ist dieses Märchen immer dabei, wenn ich mit Schulklassen Schnitzausflüge unternehme.

Bei einem Schnitzausflug mit Geschichten schnitzte Leonie ihren Namen in ihr Glücks-Holz

Diesmal stehe ich in einer Bibliothek zwischen Büchern und Kindern, und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich Platanen, mächtig und hoch. Ich denke intensiv an einen Birnbaum und beginne zu erzählen: „Es war einmal ein Mann, der vorzüglich zu schnitzen verstand. Unter seinen geschickten Händen entstanden verwunschene Fabelwesen, putzmuntere Tiere und Zauberstäbe mit echter Magie. …“
Ich spüre, wie die Kinder lauschen und sehe vor meinem inneren Auge Bilder vorüberziehen, sehe den Sturm, den Birnbaumast, der dem Schnitzmeister im Weg liegt, aus dessen Holz er in seiner Werkstatt kleine hölzerne Birnen schnitzt und sehe, wie er letztendlich reich wird. „Allen wird gleich bei der Geburt ein Glücksholz zugeteilt. Wer die Augen offen hält, der wird gewiss eines Tages darauf treffen.“ Mein Märchen ist damit zu Ende. Ich mache eine kurze Pause, damit es nachklingen kann und komme dann darauf zu sprechen, dass oft Äpfel und Birnen miteinander verglichen werden. Obwohl Birnen an 2. Stelle der Weltproduktion an Obst stehen, werden sehr viel mehr Äpfel als Birnen verzehrt. Und doch ist die Birne berühmter als der Apfel, und das liegt an einem Gedicht, welches der Dichter Theodor Fontane geschrieben hat.

Erzählort: Birnbaum an einem Feldweg bei Neulussheim, nicht weit von Rhein

Es meldet sich ein Junge und unterbricht meinen Erzählfluss. „Das Gedicht kennen wir!“, sagt er stolz.
Und dann sitzen vor mir 60 Fünftklässler und sprechen im Chor: „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, ein Birnbaum in seinem Garten stand …“ Zwischendrin geraten sie ins Stocken, da hole ich zwei Jungen nach vorn und unter ihrer Leitung sprechen alle die Ballade bis zu ihrem Ende „So spendet Segen noch immer die Hand
Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.“

Ich bin ergriffen und begeistert. Den Kindern erzähle ich noch davon, dass es diesen Baum in dem Dorf Ribbeck in Brandenburg wirklich gegeben hat. Er fiel aber 1911 bei einem Sturm um. Doch als 1989 die innerdeutsche Grenze fiel, wurde ein neuer Birnbaum gepflanzt und dieser Baum steht heute bei der Kirche in Ribbeck. „Ihr könnt ihn besuchen!“ Auf der Homepage der Familie von Ribbeck finden sich weitere Informationen, dort lässt sich die Ballade auch in vielen anderen Sprachen nachlesen.

In der Woche darauf mache ich eine Leseaktion an einem ganz anderen Ort, dort sind auch syrische Flüchtlingskinder dabei. Hinterher sagt ein syrisches Mädchen, etwa 11 Jahre alt, zu mir: „Ich habe ein Gedicht gelernt, soll ich das einmal aufsagen?“ Natürlich ermutige ich sie und dann sagt ein Mädchen aus Syrien, das seit gut einem Jahr in Deutschland lebt, mir auswendig auf: „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland…“ Sie stolpert dabei nicht einmal über die norddeutschen Dialektausdrücke „Junge, wiste ’ne Beer“ und „Lütt Dirn, Kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn.“ (Mechthild Goetze)